Im Tau-Magazin Ausgabe 5/2013 wurde folgender Artikel zum Thema Freilernen von mir veröffentlicht. In diesem Artikel beschreibe ich meinen Zugang zum Thema Bildung:
“Na, freust du dich, dass die Schule wieder losgegangen ist?”, wurden meine Söhne (6 und 8 Jahre) in den letzten Tagen oft gefragt. Ihre Antwort: “Wir gehen nicht in die Schule!”, hinterließ meist ein großes Fragezeichen auf den Gesichtern der Menschen. Ich springe dann meist mit der Erklärung ein, dass die Kinder zum “Häuslichen Unterricht” angemeldet sind. Das ist der offizielle Ausdruck in Österreich für schulpflichtige Kinder , die vom Regelunterricht abgemeldet wurden (§ 11 SchPflG).
“Dann unterrichten Sie Ihre Kinder also selbst!?” – Und genau da beginnt nun die “Geschichte” des Freilernens.
Wir unterrichten unsere Kinder nicht. Freilernereltern hinterfragen das derzeit dominante Bildungssystem grundlegend. Statt “homeschooling”, also dem Unterricht zu Hause oder in einer Privatschule, sprechen wir von “unschooling”. Damit wird ein vom Kind selbst bestimmtes Lernen bezeichnet. Die Eltern versuchen den Kindern einen Raum zu schaffen, in dem diese selbstbestimmt und durch ihre vorhandene Begeisterung angetrieben lernen und erfahren können. Der Neurobiologe Gerald Hüther beschreibt in seinen Büchern, wie Kinder, die bis zum Eintritt in unsere allgemeine Bildungsschiene – und diese beginnt tendenziell immer früher – durch Begeisterung lernen. Bis zu 100 Begeisterungsmomente können ein Kind pro Tag zum Lernen anregen. Dabei werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die Hüther als “Dünger für das Gehirn” bezeichnet. Das passiert aber nur, wenn die emotionalen Zentren im Hirn aktiviert werden. Dazu muss jemandem etwas sehr wichtig sein oder sogar unter die Haut gehen. Laut Hüther unterstützt dieser “Dünger” nur die Bereiche, die man im Zustand der Begeisterung gerade benützt. Da Kinder sich für nahezu alles begeistern können, wird dieser “Dünger” wie mit einer Gießkanne über das Gehirn geschüttet. Herz und Hirn in Kombination führen zur Weiterentwicklung, und das nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen.
Beim Eintritt in unser Schulsystem wird Kindern ein Lehrplan vorgesetzt, den sich BildungswissenschafterInnen und -politikerInnen gut überlegt haben, die meist dasselbe Standardsystem erlebt haben, für das sie nun arbeiten und planen. Veränderungen basieren auf Studien, die nur den Ist-Zustand betrachten, diesen aber niemals grundlegend hinterfragen. Von einem Tag auf den anderen soll aus einem emotional durch Begeisterung gesteuerten Lernen ein kognitives Lernen werden, das zu einer bestimmten Zeit am Tag ein gewisses Thema abrufbar macht. Das zumindest ist der Alltag, dem auch 2013 noch die meisten Kinder im öffentlichen und privaten Bildungssystem gegenüber stehen.
Wie sieht nun ein Tag eines freilernenden Kindes aus? Nun, da sind die Eltern und alle anderen Personen schon sehr gefordert, denn nahezu jeder Tag verläuft irgendwie anders. Die Kinder lernen nicht nach einem vorgegebenen Plan oder nach fixen Zeiten. Bereits nach dem Aufstehen kann ein erstes Thema präsent sein, das an diesem Tag verfolgt werden will. Manchmal ist es schon schwierig die Kinder noch zum Frühstücken zu motivieren, weil es sie bereits aus ihrer Beschäftigung reißen würde. An anderen Tagen will so gar nichts interessant sein und Langeweile macht sich breit. Diese Langeweile zu erdulden – sowohl von uns Eltern als auch vom Kind – führt oft zu den spannendsten Beschäftigungen, denn es gibt einem eine Pause, die zum Nachdenken anregt und verschnaufen lässt. Der Moment der Langeweile ist wie eine Zäsur in einem Buch. Die Geschichte, die danach folgt, bringt oft eine wundersame Wende.
Da die Kinder nicht außerfamiliär betreut werden, müssen sie die Eltern natürlich auch bei so manchem (ungeliebten) Termin begleiten, was häufig ein Grund für Protest und Unmut ist. Gleichzeitig müssen wir Erwachsene uns auch fragen, wie viel denn wirklich erledigt werden “muss”. So beginne ich immer öfter jeden Satz, den ich mit “Ich muss schnell …” beginne, kritisch zu beleuchten. Denn Vieles hinterfragen wir einfach nicht mehr. So helfen die Kinder uns selbst zu “entschulen”, ein Prozess der lange dauert und vieles, wenn nicht sogar alles, was man in seiner eigenen Zeit in der Schule und auch später gelernt hat, kritisch betrachten oder gar umstoßen lässt. Sehr oft gehen wir unserer Arbeit nach und versuchen den (All)Tag zu strukturieren und mit Gewohnheiten zu vereinfachen. Als Folge freuen wir uns auf den Urlaub und die Freizeit, wo dann alles passen muss und die große Freiheit erlebt werden will. Doch warum machen wir nicht dieses Gefühl der Freiheit zum Alltag?
Wenn “Lernen” Spaß macht, dann merkt man keinen Unterschied zwischen Spielen und Lernen. Es gibt auch keinen Lehrplan, der zu erfüllen ist. Kinder wissen selbst am besten, was sie zu welchem Zeitpunkt lernen können und wollen. Wir Eltern sind aufmerksame Beobachter und eröffnen ihnen gegebenenfalls Möglichkeiten, sich dieses Wissen anzueignen. Und wenn sie etwas wissen wollen, dann bohren sie solange, bis sie zufrieden sind, dessen können wir uns sicher sein. Damit erfüllen sie möglicherweise nicht die Bildungsstandards unserer Gesellschaft. Doch wer weiß, ob diese jemals wichtig werden in ihrem weiteren Leben.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Entscheidung, unsere Kinder in dieser Form zu begleiten, eine der größten in unserem Leben war. Gleichzeitig auch eine, die uns selbst in unserem Denken und Handeln verändert und bereichert hat. Viele Fragen und Zweifel, die wir vorher gehabt haben, lösten sich in Luft auf, und mit jedem Tag, den wir unsere Kinder begleiten dürfen, wachsen wir mit – mit einer neuen Generation von Menschen. Menschen, die frei sind in ihrem Denken und ihrem Handeln und selbstbewusst und selbstbestimmt in ihr weiteres Leben gehen.
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